• Veröffentlichungsdatum : 27.01.2020

  • 19 Min -
  • 3775 Wörter
  • - 12 Bilder

Operation Banner 1969-2007

Jürgen Scherl; Alexander Böhm

„Operation Banner“ ist die Bezeichnung für den Einsatz britischer Streitkräfte in Nordirland. Aus einer zeitlich begrenzten Unterstützung für nordirische Polizeikräfte entwickelte sich der längste in einer Phase ablaufende militärische Einsatz der britischen Geschichte. Der spezielle Charakter eines Inlandseinsatzes mit stabilisierender Zielsetzung stellte die konventionell ausgerichtete Armee vor besondere Herausforderungen. Der Kampf gegen die Provisional Irish Republican Army war die augenscheinlichste, letztlich jedoch nicht die vorrangigste Aufgabe. In der Stabilisierung steht das Herstellen annehmbarer Bedingungen, unter welchen politische Lösungen – getragen von der Zivilbevölkerung – denkbar sind, an erster Stelle. Viele Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem Nordirland-Konflikt sind heute elementartaktische Grundlagen, die als Leitlinien für Einsätze mit stabilisierendem Charakter im 21. Jahrhundert dienen.

Wie in neuzeitlichen Einsätzen mit stabilisierender Zielsetzung üblich, waren auch die britischen Streitkräfte in Nordirland mit jenen komplexen politisch-gesellschaftlichen Umfeldbedingungen konfrontiert, auf die eine konventionelle Streitmacht zu dieser Zeit nicht eingestellt war. Erste Verbände wurden im August 1969 kurzfristig ohne Vorbereitung und ohne Strategie nach Nordirland verlegt, um die Polizeikräfte zu unterstützen. Anstatt stabilisierend zu wirken, wurde durch die Präsenz des Militärs die Gewaltspirale zusätzlich entfacht. Die britische Intervention nahm der benachteiligten katholischen Bevölkerung die Hoffnung auf politische und soziale Gleichstellung und förderte den Zuspruch und das Wirken der Provisional Irish Republican Army (PIRA). Es dauerte 38 Jahre bis die Streitkräfte den Einsatz im Jahr 2007 beendeten und damit zur Lösung eines Konfliktes beitragen konnten, der seine Wurzeln tief in der Geschichte hat.

Konfliktwurzeln

Der Ursprung des Nordirlandkonfliktes (genannt „The Troubles“) lässt sich nicht auf ein bestimmtes Ereignis zurückführen und er lässt sich nicht auf einen Religionskrieg zwischen Protestanten und Katholiken reduzieren. Ausschlaggebend für den Ausbruch offener Gewalt Ende der 1960er-Jahre war eine tief gespaltene Gesellschaft in Nordirland, die sich seit dem 12. Jahrhundert etablierte. Nach der Besetzung erster Regionen durch Anglo-Normannen im Jahr 1169 erfolgte in den darauffolgenden Epochen eine gezielte Ansiedelung protestantischer Briten und Schotten vor allem im Norden des katholisch geprägten Irlands. Unterstützt durch die Regierung in London begann die protestantische Minderheit ab dem 17. Jahrhundert sukzessive die Kontrolle in Politik, Justiz, Verwaltung und Wirtschaft zu übernehmen. Auf dem Höhepunkt britischer Einflussnahme verlor Irland in den Jahren 1800 bis 1801 seine Unabhängigkeit und wurde Teil des „Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Irland“.

Im Lager der fortan stetig unterdrückten und diskriminierten katholischen Iren formierte sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Partei Sinn Féin („Wir selbst“), die die politische Führungsrolle der benachteiligten Ethnie übernahm. In ihrem Wirken erlangte Gewalt eine bedeutende Rolle (z. B. in Form des „Easter Risings“ 1916), um das politische Ziel der Unabhängigkeit Irlands zu erreichen. Der Irische Unabhängigkeitskrieg von 1919 bis 1921 zwischen britischen Sicherheitskräften und der neu formierten Irish Republican Army (IRA) führte schließlich zur Teilung Irlands. Die sechs „Ulster“-Provinzen im Nordosten wurden zu Nordirland und blieben ein Teil des Vereinigten Königreiches mit Selbstverwaltungsrechten. Die übrigen 26 Provinzen mit katholischer Mehrheit formten einen irischen Freistaat innerhalb des „British Empire“. Die Teilung Irlands änderte die Bevölkerungsverteilung in Nordirland grundlegend. Die protestantische Bevölkerung, bisher die Minderheit, stellte nun die Mehrheit innerhalb der neuen Grenze. Die katholische Vorherrschaft in Nordirland war dadurch mit einem Schlag annulliert.

Die darauffolgenden Jahre waren von gesellschaftlichen Spannungen geprägt. Auf der einen Seite standen katholische Nationalisten und (radikale) Republikaner (in der Folge als „Katholiken“ bezeichnet), die an der ursprünglichen Absicht der Unabhängigkeit Nordirlands und Vereinigung mit Irland festhielten. Ihnen standen protestantische Unionisten und (radikale) Loyalisten (in der Folge als „Protestanten“ bezeichnet) gegenüber, die der politischen und gesellschaftlichen Integration und Gleichstellung der katholischen Iren in Nordirland entgegentraten. Das mehrheitlich aus Unionisten bestehende nordirische Parlament setzte sich für die Beibehaltung des Status quo ein und trat einer Diskriminierung der katholischen Bevölkerungsminderheit nicht effektiv entgegen. Auf dieser Basis verfolgten radikale irreguläre Gruppierungen – allen voran die IRA – unter Abstützung auf den subversiven Kampf unbeirrt das Ziel der Vereinigung mit der Republik Irland, wiewohl die Unterstützung aus der Bevölkerung zunächst noch gering war.

In den 1960er-Jahren lebte die katholische Minderheit Nordirlands im Vergleich zu den Protestanten in ärmlichen Verhältnissen. Vor allem die Lage in den katholischen Wohnvierteln der beiden Städte Belfast und Londonderry (kurz „Derry“) war angespannt. Die Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA) begann eine Kampagne für die Gleichberechtigung der Katholiken zu führen. Nachdem keine Veränderungen absehbar waren, sollten friedliche Protestmärsche den Druck auf die Regierung erhöhen. Auch auf der Gegenseite machte man sich die „Macht der zivilen Masse“ zunutze. Die Apprentice Boys Parade, ein geschichtsträchtiger Marsch von Protestanten durch katholische Viertel in „Derry“, führte im August 1969 zum vorläufigen Höhepunkt der Gewalt. Mehrtägige blutige Auseinandersetzungen zwischen Protestanten, Katholiken und der RUC (Royal Ulster Constabulary – nordirische Polizei von 1922 bis 2001) in den Straßen „Derrys“ sowie in Belfast waren die Folge. Auf Ansuchen des nordirischen Premierministers wurden erste Verbände der britischen Armee am 15. August 1969 nach Londonderry verlegt, um die überforderte RUC zu unterstützen und die Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen.

Konfliktparteien und relevante Akteure

Der Nordirlandkonflikt gilt als klassisches Beispiel eines asymmetrischen nicht-international bewaffneten Konfliktes, an dem eine Vielzahl von regulären und irregulären Kräften beteiligt sind. Aufseiten der staatlichen Akteure standen die Streitkräfte Großbritanniens, konkret Elemente des britischen Heeres, im Zentrum der Geschehnisse. Geführt vom Headquarter British Army Northern Ireland (HQ BANI) gliederten sich die eingesetzten Kräfte in die 3. Infanteriebrigade, die 8. Infanteriebrigade und die 39. Infanteriebrigade. Die Gesamtstärke belief sich auf zumindest 11 000 Soldaten. Die Einsatzdauer der Einheiten variierte, obwohl der Kern aus permanent in Nordirland stationierten Einheiten bestand. Infanteriebataillone, spezialisierte Aufklärungselemente und Spezialeinsatzkräfte standen im Zentrum der Einsatzführung.

Die RUC war der zweite reguläre Hauptakteur. Mit knapp 3 000 Mann war ihre Kampfkraft zu Beginn des Konfliktes gering, wiewohl ihre Stärke bis Mitte der 1980er-Jahre auf über 8 000 Polizisten anstieg. Die präsenten Exekutiveinheiten der RUC kamen bei sämtlichen Vorfällen als „First Responder“ zum Einsatz. Daneben existierten verdeckt agierende Elemente der RUC Special Branch, die vorrangig bei der polizeilichen Aufklärung eingesetzt waren.

Die übrigen Akteure unterteilten sich in zwei große Lager. Irregulärer Hauptakteur des republikanischen Lagers und primärer Konfliktgegner der Sicherheitskräfte war die militante PIRA, die aus der „alten“ IRA hervorging. Unter Abstützung auf den subversiven Kampf bediente sie sich vor allem terroristischer Methoden wie Attentaten, Bombenanschlägen und Geiselnahmen, um das politische System und die innere Stabilität Nordirlands zu zerstören. Ein weiteres Ziel war der Schutz der katholischen Minderheit gegenüber den Protestanten und den Sicherheitskräften. Die Stärke der PIRA belief sich Anfang der 1970er-Jahre Schätzungen zufolge auf etwa 15 000 aktive Mitglieder. Ähnlich der Struktur regulärer Streitkräfte war sie zu Beginn des Konfliktes in Brigaden gegliedert, die dezentral stationierte Bataillone und Kompanien führten. Nach der Transformation in eine zellenartige Struktur ab Mitte der 1970er-Jahre umfasste ihr Kern etwa 2 000 Kämpfer. Gruppenstarke Active Service Units (ASU) führten in der Folge Angriffe als Teil eines lose zusammenhängenden Netzwerkes aus.

Aufseiten des protestantischen Lagers formierten sich gleichermaßen paramilitärische Gruppierungen. Die aktivsten Formationen waren die Ulster Freedom Fighters (UFF) und die Ulster Volunteer Force (UVF), die sich ebenfalls der subversiven Kampfweise bedienten. Ziel ihrer Attentate und Bombenanschläge waren die katholische Zivilbevölkerung sowie die PIRA, nie aber die Sicherheitskräfte, weshalb sich die Einsatzführung der Streitkräfte und der Polizei nicht gegen die UFF und die UVF richtete. Während die UFF mehrere tausend Unterstützer und etwa 5 000 aktive Mitglieder zählte, umfasste die UVF im Kern ca. 1 500 Kämpfer. Analog zur PIRA entwickelten sich Bombenanschläge zur bevorzugten Methode der protestantischen Paramilitärs.

Konfliktraum

Mit knapp 14 000 km² Gesamtfläche und 1,8 Mio. Einwohnern ist Nordirland nur etwas größer und bevölkerungsreicher als Oberösterreich. Die nordirische Küste ist mit etwa 500 km genauso lang wie die Grenze zur Republik Irland. Diese stets „offene Grenze“ stellte eine Besonderheit dar, da über diese die PIRA im Verlauf des Konfliktes Personal, Bewaffnung und Gerät weitgehend ungehindert nachführen konnte. Geografisch charakterisiert sich Nordirland durch weitläufiges, hügeliges Wiesen- und Ackerland – durchsetzt mit kleinen Waldstücken und Ortschaften. Als gesellschaftliche und wirtschaftliche Zentren gelten – nach wie vor – „Derry“ und die Hauptstadt Belfast, wo etwa 20 Prozent der Bevölkerung Nordirlands leben. Zu Beginn der 1970er-Jahre waren rund 35 Prozent der Nordiren Katholiken. Sowohl „Derry“ mit grob 60 000 Einwohnern als auch Belfast mit knapp 300 000 Bürgern waren jedoch mehrheitlich von Katholiken bevölkert, wodurch verständlich wird, warum die Aufstandsbewegung gerade in diesen Städten großen Zuspruch erhielt.

Einsatz der britischen Streitkräfte in Nordirland

Die Einsatzführung des britischen Militärs lässt sich retrospektiv in drei Phasen unterteilen, der weniger eine fundierte Planung zugrunde lag, sondern vielmehr die Ausprägung eines subversiven Kampfes der Konfliktparteien:

  • „Peacekeeping“ (Friedenssicherung) 1969 bis 1972;
  • „Counterinsurgency“ (Aufstandsbekämpfung) 1972 bis 1976;
  • „Policing“ (Polizeiarbeit) 1976 bis 2007.

Im August 1969 wurden Kräfte der britischen Armee in der Stärke von drei Infanteriebrigaden nach Nordirland verlegt und im gesamten Land stationiert. Im Rahmen des Schutzes von Räumen, der anlassbezogenen Kontrolle von Räumen sowie des Schutzes von Verkehrswegen mit dem Schwergewicht in „Derry“ und Belfast sollten die Konfliktparteien in Form der beiden Bevölkerungsgruppen getrennt, erneute Übergriffe verhindert und ein sicheres Umfeld wiederhergestellt werden.

Die Einsatzführung der Streitkräfte bis zum Ende des Jahres 1969 war weitgehend erfolgreich, und die Lage stabilisierte sich. Mangels strategischer Ziele in Bezug auf die Konfliktlösung und aufgrund der pro-protestantischen Haltung der Armee, offenbarte sich die Einsatzführung des Militärs dennoch als ineffektiv. Nachdem die Anliegen der katholischen Minderheit fortwährend ignoriert worden waren, erfuhr die Protestbewegung im Jahr 1970 einen neuerlichen Aufschwung. Bei wiederholten Demonstrationen erwies sich die Einsatzführung der Streitkräfte im Ordnungseinsatz als unverändert parteiisch, wodurch die Wahrnehmung als „Beschützer“ der Katholiken rasch schwand. Als einzig verbliebener Protektor förderte die bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend inaktiv gebliebene PIRA eine neuerliche Eskalation der Gewalt.

Eine Schießerei zwischen Angehörigen der PIRA und der UVF mit sechs Todesopfern ließ die Lage Ende des Jahres 1970 eskalieren. Es folgten Ausgangssperren und Hausdurchsuchungen in katholischen Siedlungsvierteln im Zuge derer willkürlich verdächtigte PIRA-Mitglieder festgenommen sowie Besitz beschlagnahmt und Eigentum zerstört wurde. Dies führte zu einem endgültigen Vertrauensbruch zwischen der katholischen Minderheit bzw. der PIRA und den Sicherheitskräften. Die Folge waren erste Attentate und Bombenanschläge gegen Elemente der RUC und der Streitkräfte, die auch Todesopfer forderten. In ihrem Dasein als „Beschützer“ der Katholiken erfuhr die PIRA in „Derry“ und Belfast enormen Zuspruch.

Counterinsurgency (Aufstandsbekämpfung) 1972 bis 1976

Getrieben von gewaltsamen Groß-demonstrationen nahm die Aufstands-bewegung mit einer ersten Offensive der PIRA in Form von Bombenanschlagsserien Gestalt an. Die Entscheidung des britischen Parlamentes zur Durchführung von Internierungen sollte einer Eskalation der Lage entgegenwirken. Mit der „Operation Demetrius“ im August 1971 sollte die PIRA durch Massenverhaftungen von potenziellen PIRA-Mitgliedern zerschlagen werden. Aufgrund mangelhafter nachrichtendienstlicher Aufklärungsergebnisse, die zur Internierung unschuldiger Zivilisten führten, sowie des erneuten unverhältnismäßigen und willkürlichen Vorgehens der Sicherheitskräfte, war das Vorhaben ein Misserfolg. Die Sicherheitslage in Nordirland verschlechterte sich zusehends.

Die PIRA begann die katholische Zivilbevölkerung in den Aufstand und ihre Einsatzführung einzubinden. Große Protestmärsche bezweckten eine Konfrontation mit den Sicherheitskräften und führten zu einer gewaltsamen Reaktion. Der verheerendste Vorfall in diesem Zusammenhang war der „Bloody Sunday“ im Jänner 1972. Bei einer Demonstration eröffneten Soldaten das Feuer und töten vierzehn Zivilisten, darunter sieben Kinder. Die PIRA reagierte mit einer Bombenanschlagsserie in „Derry“ und Belfast, die als „Bloody Friday“ in die Geschichte einging und neun tote sowie über 100 verletzte Zivilisten forderte. Diese Entwicklungen führten nicht nur zur Auflösung des Parlamentes in Belfast und der direkten politischen Führung durch London, sondern auch zur „Operation Motorman“ am 31. Juli 1972. Bei einer der größten militärischen Operationen nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die Kontrolle über die verbarrikadierten, katholisch bevölkerten Stadtviertel in „Derry“ und Belfast, wiedererlangt und die Bewegungsfreiheit der katholischen Paramilitärs eingeschränkt werden. Unter Einsatz von 29 Bataillonen und insgesamt 28 000 Soldaten mit schweren Waffen und Gerät wurden die katholischen Siedlungen durchkämmt. In der Folge wurde die militärische Präsenz durch die Errichtung von Beobachtungs- und Kontrollpunkten gewahrt und durch Fußpatrouillen in Trupp- bis Gruppenstärke verdichtet. Die Anpassung der Einsatzführung hin zu einer Aufstandsbekämpfung (Counter Insurgency - COIN) nahm Gestalt an. Dennoch gelang aufgrund mehrerer Mängel im nachrichtendienstlichen Bereich vielen PIRA-Angehörigen vorab die Flucht, und die paramilitärische Formation wurde erneut nicht zerschlagen. Vielmehr erfuhr sie in den darauffolgenden Jahren bis 1975 unveränderten Zulauf, und das Gewaltpotenzial sowie die Opferzahlen blieben auf beiden Seiten hoch.

Policing (Polizeiarbeit) 1976 bis 2007

Im Jahr 1976 vollzog die PIRA einen Strategiewechsel. Durch eine Reform des Führungssystems und die dezentrale Aufstellung gruppenstarker Active Service Units, die als Teil eines lose zusammenhängenden Netzwerkes autark Attentate und Bombenanschläge vorbereiteten und durchführten, sollten die Sicherheitskräfte in einen langen Einsatz gedrängt werden. Auch die Streitkräfte adaptierten ihre Einsatzführung, die bis zu diesem Zeitpunkt primär auf die Vernichtung der PIRA abzielte. Die Transformation implizierte eine Stärkung der Polizei, die ins Schwergewicht der Operation gestellt und von der Armee unterstützt wurde. Innerhalb der Etablierung eines gesamtstaatlichen Ansatzes wurden die Internierungen beendet, die rechtmäßige Anklage- und Verfahrensführung wiederhergestellt und sowohl Vertreter der PIRA als auch der katholischen Fraktionen in einen politischen Konfliktlösungsprozess integriert. Neuerliche Aktivitäten der PIRA und deren fortwährende Unterstützung durch die katholische Zivilbevölkerung verdeutlichten jedoch, dass eine kurzfristige Lösung des Konfliktes nicht absehbar war.

Nach einem Regierungswechsel in London war das „Anglo-Irish-Agreement“ im Jahr 1985 ein erster politischer Meilenstein im Hinblick auf eine Konfliktbeilegung. Es implizierte Zugeständnisse der britischen Regierung an die durch die Republik Irland vertretene katholische Minderheit. Dennoch wurde das Abkommen anfänglich von protestantischer Seite und der PIRA abgelehnt. Die katholische Zivil-bevölkerung dagegen unterstützte es, und die PIRA begann stetig an Zuspruch zu verlieren. Das „Anglo-Irish-Agreement“ kann somit als erster Wendepunkt im Konflikt bezeichnet werden.

Die Streitkräfte trugen maßgeblich zu einer Effektivitätssteigerung der Einsatzführung der Sicherheitskräfte bei. Dies war auf eine Verbesserung der nachrichtendienstlichen Kapazitäten durch eigens gegliederte Aufklärungselemente zurückzuführen. Hervorzuheben sind das Ulster Defence Regiment (UDR) und die 14th Intelligence Company. Die acht Infanteriebataillone des UDR waren im gesamten Staatsgebiet Nordirlands stationiert. Die Kommandanten der kleinen Verbände und Einheiten waren Armeeoffiziere britischer Herkunft, die Mannschaft bestand aus lokal ansässigen nordirischen Milizsoldaten. Die 14th Intelligence Company wurde aus männlichen und weiblichen Einheimischen aller Altersschichten formier und speziell ausgebildet. Sie kamen verdeckt in allen Teilen der Zivilbevölkerung zum Zwecke der qualifizierten Gesprächsaufklärung zum Einsatz. Sowohl das UDR als auch die 14th Intelligence Company waren bedeutende Faktoren bei der Human Intelligence (HUMINT). Unter Führung eines neu aufgestellten Kommandos, der Intelligence and Security Group Northern Ireland, wurde die Einsatzführung der Aufklärungselemente mit jener der zugeführten Spezialeinsatzkräfte des Special Air Service (SAS) koordiniert. In Verbindung mit der nunmehr synchronisierten Einsatzführung von RUC und Armee resultierte daraus eine enorme Einschränkung der Handlungsfreiheit der PIRA, die zunehmend in die Defensive gedrängt wurde.

Abseits der Sicherheitskräfte verzeichneten die UFF und die UVF eine Effektivitätssteigerung ihrer Einsatzführung sowie einen personellen Zuwachs vor allem aus den Reihen der RUC. Wiederholte Attentate und Anschläge sowohl auf PIRA-Angehörige als auch auf die katholische Zivilbevölkerung schmälerten stetig das Image der PIRA als „Beschützer“ der Katholiken. Daraus resultierte, dass die katholische Bevölkerungsminderheit einen Fortschritt im politischen Konfliktlösungsprozess mit der Zeit mehr unterstützte als die PIRA selbst. Das kann als zweiter Wendepunkt im Konflikt gesehen werden. Im Jahr 1994 verkündete die PIRA ihren ersten länger andauernden Waffenstillstand, der 1997 verlängert wurde. Auf Basis einer Einigung implizierte das „Good Friday Agreement“ zwischen der britischen Regierung und der PIRA im Jahr 1998 schließlich eine politische Lösung des Konfliktes. Nach Abschluss der Verhandlungen besiegelte das formelle Ende der militärischen Einsatzführung am 31. Juli 2007 die offizielle Beendigung der „Operation Banner“.

Taktische Analyse der Einsatzführung der britischen Streitkräfte

Trotz vorhandener Erfahrungswerte der britischen Armee bei der Aufstandsbekämpfung im Ausland sah man sich in Nordirland einer völlig neuen Situation ausgesetzt. Die nicht nur gegen Sicherheitskräfte, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Einsatzführung der Konfliktparteien stellte ein komplexes Novum dar. Im Lichte des Ausspielens der katholischen Minderheit gegen die britischen Streitkräfte wurde die Legitimation des Einsatzes mangels einer adäquaten „Info Ops“- (Information Operations)-Kampagne von Beginn an untergraben. Im multidimensionalen Einsatzumfeld „Stadt“ zielte die Einsatzführung der Armee zunächst auf die Vernichtung der Konfliktpartei ab. Diese machte sich das Spannungsfeld aus „Aktion“ der Gegner und „Reaktion“ der Sicherheitskräfte zunutze, weshalb die Unterstützung des Aufstandes anfangs ungebrochen war. Auch der beschränkte Einsatz von Waffengewalt zeigte dem Militär die Grenzen seines Wirkens unter diesen Umfeldbedingungen auf. Eklatante Fehler am Beginn des Einsatzes – das Fehlen strategischer Ziele innerhalb eines gesamtstaatlichen Konfliktlösungsansatzes, die mangelnde Abstimmung der Führungsebenen, die Parteilichkeit und Missachtung von Befugnissen der Truppe, die Vorhersehbarkeit und Beeinflussbarkeit des eigenen Handelns sowie Mängel im nachrichtendienstlichen Aufklärungsbereich (INTEL) – verdeutlichten die Ineffektivität der Streitkräfte. Zudem stellte die Anpassungsfähigkeit des Gegners die Sicherheitskräfte oft vor neue Herausforderungen.

Erst die Adaptierung des Ansatzes im Jahr 1976 („RUC first“) auf Basis einer klaren politischen Absichtsbekundung wirkte sich positiv auf die Einsatzführung der taktischen Führungsebene aus. Im Lichte der eigenen Lern- und Anpassungsfähigkeit erhielt der Einsatz einen überwiegend defensiven Charakter und die Anstrengungen waren primär an der Zivilbevölkerung und dem Bedürfnis nach einem sicheren Umfeld ausgerichtet. Die Grundsätze der Einsatzart Schutz und der Einsatzformen Schutz von Räumen, Kontrolle von Räumen sowie Schutz von Verkehrswegen im Speziellen wurden zur Basis der Einsatzführung. Im Zuge von Patrouillen in Trupp- bis Gruppenstärke – auch mit Polizeikräften gemischt – konnten nun zielgerichtet Aufklärungsergebnisse gewonnen und durch die Interaktion mit der Zivilbevölkerung die Legitimität des Einsatzes erhöht sowie das Sicherheitsempfinden gestärkt werden. Permanente Kontrollpunkte an den Hauptbewegungslinien und temporäre Checkpoints in der urbanen Peripherie trugen effektiv zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Aufständischen bei. Offene und verdeckte Beobachtungspunkte in Verbindung mit dem Einsatz elektronischer Aufklärungsmittel mündeten schließlich in der Führungsüberlegenheit der britischen Streitkräfte. Das Vorgehen wurde mit jenem der RUC koordiniert und diese vor allem beim Ordnungseinsatz bzw. bei Zugriffen unterstützt. Der Schlüssel zur Effektivitätssteigerung lag letztlich im Aufbau adäquater INTEL-Kapazitäten in Verbindung mit der erfolgreichen Durchführung von Kommandounternehmen.

 

Taktische Lehren für die Einsatzführung

Aufstandsbewegungen wird der erforderliche Nährboden vorrangig im urbanen Umfeld geboten, wo die Präsenz der Zivilbevölkerung und die erforderliche Unterstützung der Aufständischen gegeben sind. Taktische Einsatzauswertungen wie diese lassen Besonderheiten erkennen, aus denen sich Grundsätze und taktische Prinzipien für die Einsatzplanung und -führung bei der Stabilisierung in künftigen Konflikten ableiten lassen. Das Begründen taktischer Lehren erfolgt in Referenz zu den „speziellen Grundsätzen in Einsätzen mit stabilisierender Zielsetzung“ (siehe Lehrskriptum „Die Einsatzart Schutz und die stabilisierenden militärischen Aufgaben“ des Institutes für Höhere Militärische Führung an der Landesverteidigungsakademie; Stand: Jänner 2016).

Freiheit der Bewegung

Das Erlangen und Wahren der eigenen Bewegungsfreiheit und das Einschränken des Raumes der Konfliktpartei sind in das Zentrum der Anstrengungen zu stellen. Durch eine ambivalente Präsenz der eingesetzten Truppe in der Zivilbevölkerung, die den Aufständischen Schutz bietet, ist ein stetiges Gefühl des Unbehagens zu erzeugen. Fußpatrouillen, Checkpoints, Beobachtungspunkte und HUMINT-Aktivitäten eignen sich hierfür besonders. Die Aufstandsbewältigung erfordert keine Aufstockung der Kräfte, sondern eine Dezentralisierung von kleineren Elementen. Anstelle von Großkasernen sind Außenlager einzurichten.

Gegenseitiger Respekt

Ungeachtet der zugehörigen Ethnie ist der Zivilbevölkerung im Rahmen der Einsatzführung angemessen zu begegnen. Unverhältnismäßigkeit, Willkür und Parteilichkeit sind hintanzuhalten.

Klares politisches Ziel

Der Einsatz der Streitkräfte ist auf ein durch die politische Führung vorgegebenes Ziel auszurichten. Nur dadurch ist ein stringentes Handeln auf allen Führungsebenen möglich. Die taktische Ebene muss über die politische Zielsetzung des Einsatzes informiert sein, um diese gezielt an die Zivilbevölkerung zu kommunizieren.

Legitimität/Sicherheit nur innerhalb der Legalität

Die Notwendigkeit des Einsatzes des Militärs im Inneren ist durch Informationsoperationen zu unterstreichen. Eindeutige rechtliche Befugnisse bilden den Handlungsrahmen. Im Lichte der medialen Omnipräsenz des 21. Jahrhunderts ist gerade auf taktischer Ebene eine entsprechende Disziplin zu wahren. Dies umfasst auch den Truppenschutz. In der Stabilisierung garantiert der alleinige Einsatz des Militärs noch keine Konfliktlösung. Es bedarf eines gesamtstaatlichen Ansatzes und vor allem im Bereich der Sicherheitskräfte einer koordinierten und synchronisierten Einsatzführung.

Aufklärung ist die Basis

Die Einsatzführung des Militärs benötigt gerade im urbanen Umfeld ein klares Lagebild. Eine effektive Aufklärung und Auswertung ermöglicht das Verstehen der Bevölkerung mit ihren politischen, sozialen und kulturellen Eigenheiten. In Bezug auf komplementäre Aufklärungssensoren ist die HUMINT-Komponente wesentlich. Aufklärungsergebnisse und Informationen sind, unter Einhaltung erforderlicher Operational Security-(OPSEC-)Regelungen, zwischen Sicherheitskräften und relevanten Organisationen zu teilen. Gemeinsame Koordinationseinrichtungen eignen sich hierzu besonders.

Lern- und Anpassungsfähigkeit

Der Einsatz der Streitkräfte hat sich an den im Einsatzraum spezifischen Gegebenheiten auszurichten. Gerade irreguläre Kräfte stellen sich auf die Einsatzführung des Militärs rasch ein und adaptieren ihre Techniken. Konventionelle Kernkompetenzen sind in der Regel bedingt effektiv. Nicht-kinetische Wirkmittel müssen in den Fokus gerückt werden. Jeder Kräfteeinsatz ist zu evaluieren, und Erkenntnisse bzw. Lehren sind daraus zu ziehen. Nicht verfügbare Fähigkeiten müssen generiert und integriert werden.

Lange Einsatzdauer

Stabilisierung benötigt Zeit. Zumeist gibt es keinen schnellen Erfolg und keinen bloßen militärischen Sieg. Darüber hinaus ist von einer längeren Einsatzdauer und daher längerfristigen Bindung der Kräfte auszugehen. Auf Basis eines klaren politischen Willens ist die Durchhaltefähigkeit in personeller und materieller Hinsicht entscheidend.

Rasche Übergabe an lokale Kräfte

Die Übernahme der Führungsrolle durch lokale Kräfte stärkt die Legitimität der föderalen Einrichtungen. Bei einem Inlandseinsatz mit stabilisierender Zielsetzung steht die Polizei an der Spitze. Dadurch kommen Streitkräfte nicht in den Verruf der „Besatzerrolle“ und schränken gleichsam die Propaganda der Konfliktparteien ein.

Kampf um und in der Bevölkerung

Die Zivilbevölkerung und vor allem der neutrale „unentschlossene“ Teil stehen im Fokus aller Anstrengungen. Die Einsatzführung der Streitkräfte ist nicht nur im Hinblick auf die Wirkung bei den Aufständischen, sondern auch auf die Bevölkerung zu beurteilen und zu messen. Es sind Narrative zu entwickeln, die den Zweck und die Ziele der Maßnahmen sowie politische und militärische Erfolge hervorheben und dabei die Erwartungen der Bevölkerung treffen.

Neutralisierung des Aufstandes und Trennung der Aufständischen von ihrer Unterstützung

Zur Neutralisierung eines Aufstandes müssen dessen Ursachen bekämpft sowie die Aufständischen physisch und psychisch von der Bevölkerung getrennt werden. Das Verständnis der Konfliktursache ist die Basis effektiver Maßnahmen. Die physische Trennung der Aufständischen beinhaltet eine Bandbreite an Handlungen, die bis zu einem Kampfeinsatz führen kann. Die psychische Trennung erfordert vor allem den Einsatz konzentrierter Maßnahmen der Beeinflussung.

 

Fazit

Der Einsatz von Streitkräften im Inneren weist eine eigene Charakteristik mit besonderen Herausforderungen auf – gerade bei Einsätzen mit stabilisierender Zielsetzung. Es bedarf einer Anpassung des Verständnisses in Bezug auf die Rolle des Militärs bei der Aufstandsbekämpfung, aus der eine konkrete Ausrichtung der militärischen Einsatzführung an die im Einsatzraum spezifischen Gegebenheiten folgen muss. Der militärische Sieg führt in der Regel nicht nur über die Vernichtung der Konfliktparteien. Im Sinne eines feind- und bevölkerungsbezogenen Ansatzes belaufen sich die Hauptaufgaben von Streitkräften auf ein Konglomerat aus offensiven, defensiven, ermöglichenden und stabilisierenden Handlungen. Die Komplexität des Einsatzumfeldes „Stadt“ lässt der omnipräsenten Zivilbevölkerung eine besondere Rolle zuteilwerden. Eingebettet in einen gesamtstaatlichen Konfliktlösungsansatz mit klarem politischem Ziel definiert sich die Effektivität der Einsatzführung auf der taktischen Führungsebene über den Rückhalt der Streitkräfte in der Zivilbevölkerung und deren Unterstützung. Im Zentrum der militärischen Anstrengungen steht letztlich die Schaffung eines sicheren Einsatzumfeldes, das einen politischen Reformprozess, die wirtschaftliche Prosperität und den gesellschaftlichen Frieden lanciert – und damit die Voraussetzung für die Konfliktlösung darstellt.

Oberstleutnant dG Mag.(FH) Mag. Jürgen Scherl ist HLO&Forscher im Referat Taktik/Institut für Höhere Militärische Führung an der LVAk.

Hauptmann dG Mag.(FH) Alexander Böhm ist HLO&Forscher im Referat Taktik/Institut für Höhere Militärische Führung an der LVAk.

 

Ihre Meinung

Meinungen (0)